retourkutsche

Betrachten Sie bitte das folgende eher als Spiel, als mutwilliges Assoziieren, vielleicht auch nur als Ausdruck einer ohnmächtigen kleinen Rache von jemandem, der nichtlang genug in "Behandlung" war, um die "richtige" Einstellung verinnerlicht zu haben, jedenfalls aber nicht als Argumentation, als etwas Realistisches, kurz: als eine Art Retourkutsche, von der ich allerdings glaube, daß sie dem psychiatrischen Kauderwelsch insofern ebenbürtig ist, als eigentlich beides ziemlich überflüssiger Nonsens ist.

Angenommen, es gäbe den Psychiater, und man müßte ihm eine psychiatrische Diagnose verpassen, egal aus welchem Anlaß, was wäre dann das Ergebnis?

l) Ein Arzt ist gemäß dem hypokratischen Eid, den er ablegen muß, verpflichtet, die Menschen, die sich ihm anvertrauen (oder die ihm, wie bei Kindern, Alten, Irren und Schwachsinnigen, anvertraut werden) zu heilen, zumindest, wenn das nicht geht, ihnen zu helfen, ihre Not und ihre Schmerzen zu lindern. Auch ein Psychiater ist seine Ausbildung nach und von seinem Selbstverständnis ein Arzt Dennoch übernimmt er ganz und gar andere Aufgaben als seine Kollegen Aufgaben, die in früheren Epochen öder in anderen Kulturen von Berufen und sozialen Einrichtungen wie der Polizei, dem Gefängnis, dem Kloster, der Inquisition, dem Priester, dem Beichtvater, dem Henker, dem Folterknecht, dem Exorzisten, dem Magier, dem Medizinmann, dem Schamanen, dem Wunderheiler, dem Friedensrichter, der Verbannung aus der Gemeinschaft, der natürlichen Auslese (?), dem Zirkusdirektor oder dem Monstrositätenkabinett vorbehalten wahren, alles jedenfalls Beschäftigungen, die mit dem Beruf des Arztes nicht sehr viel gemein haben. Um also die Spannung aus diesen beiden total heterogenen, miteinander unvereinbaren Sphären sozialen Verhaltens und dessen Institutionalisierung als Berufsbild überhaupt-aushallen zu können, muß der Psychiater die Existenz dieser Disparität, dieser merkwürdigen Doppelheit seiner Verpflichtungen schlicht verleugnen, genauer:

er muß sie, um seinen Job überhaupt ausüben zu können, den verschlungenen und unberechenbaren Ausschließungsbewegungen der berüchtigten Verdrängung anvertrauen. Diese Verdrängung ist aber so fundamental im Zentrum der Konstitution dessen, was ein Psychiater wesentlich ist, angesiedelt, daß sie nicht nur ein paar neurotische Verspannungen am Rande seines Wirkens hervorruft, sondern in Form der Verwerfung eine tiefe Kluft aufreißt, eine sein Handeln und Denken immer und überall bestimmende Spaltung, die als solche selbst nie bewußt wird, sondern nur von den Prämissen und Wirkungen seines Tuns abgeleitet werden kann. Kurz: Dem Beruf des Psychiaters ist die Spaltung des Gemüts wesentlich eingeschrieben. Nun ist aber "Spaltung des Gemüts", wie Sie sicher wissen, nichts anderes als die wörtliche Übersetzung des aus dem Altgriechischen von Bleuler zu Anfang dieses Jahrhunderts geprägten Kunstwortes "Schizophrenie".

2) Der Psychiater muß seinen Patienten, um sie zu heilen, körperliche Beeinträchtigungen, Schmerzen, ja auch Qualen zufügen. (Das hat dann den euphemistischen Namen "Nebenwirkung".) Selbst wenn er einen Heilungserfolg auf diesem Wege garantieren und in jedem Fall erzielen würde, wäre dieses Verfahren äußerst fragwürdig: Sollte er nicht als Arzt zunächst und vor allem körperliches Leiden lindern oder am besten gänzlich beseitigen? Ungeachtet jeder möglichen theoretischen psychiatrischen Rechtfertigung dieser Methoden, bleibt ein augenfälliger und nicht wegzurationalisierender Widerspruch auf der empirischen Ebene:

Emotional und für den "gesunden Menschenverstand" bleibt es unbegreiflich, daß ein von Zungen- oder Nackenkrämpfen heimgesuchter, zitternder, sabbernder, starr an die Decke blickender (etc.: Sie kennen das!) Mensch, der vor Beginn der an ihm vorgenommenen Therapie alle diese Erscheinungen nicht kannte, sich auf dem ärztlich verordneten Weg der Genesung befindet. Um nachvollziehen zu können, daß das dennoch sinnvoll ist, muß man sich sehr weit von der Ebene der unmittelbaren Anschauung und dem spontan sich einstellenden Gefühl entfernen, genauer diesen unmittelbaren sinnlichen Eindruck von der intellektuellen Verarbeitung strikt abtrennen. Nichts anderes bedeutet "schizo-affektiv"!

3) Um diese rein intellektuelle Abstraktionsleistung vollziehen und gemäß den aus ihr folgenden Schlüssen behandeln zu können, muß der Psychiater ein sehr festes, geradezu blindes Vertrauen in die objektive Richtigkeit der medizinischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen haben. Er muß sie, zumal als armer, kleiner Kliniker, der von den großen "Forschungen" den Universitäten ziemlich ausgeschlossen ist, schlicht glauben, unkritisch und affirmativ sich an dem festkrallen, was als normal und als wissenschaftlich erwiesen gilt. Das ist, vorsichtig gesagt, eine gravierende Verkennung der Realität, auch der Realität der Naturwissenschaften, deren avancierteste theoretische Positionen die Frag-würdigkeit der eigenen Prämissen und "Gesetze" längst thematisieren. Eine Verkennung die, mit ein bißchen Phantasie, leicht als wahnhafte Verarbeitung von Elementen der äußeren Wirklichkeit beschrieben werden kann.

4) Statistiken beweisen: Der Psychiater gehört einer Berufsgruppe an, die sich, verglichen mit anderen, auch dadurch auszeichnet, daß sich ihre Vertreter sehr viel häufiger umbringen. Er ist also potentiell suizidgefährdet.

5) Sozialwissenschaftliche und historische Forschungen belegen unanzweifelbar, daß sich die Psychiatrie noch viel weniger als das ganze juristische System, der Beamtenapparat oder die Bundeswehr mit ihrer sehr weitgehenden Verstrickung in die Vernichtungsprogramme der Nationalsozialisten auseinandergesetzt hat. Mehr noch als der auch nicht gerade vorbildliche Rest dieser Gesellschaft hat die Psychiatrie diese wenig schöne Ver gangenheit, ihre ureigenste Herkunftsgeschichte also, verdrängt, und jeder kleine Psychiatriepraktikam (und natürlich in viel größerem Maße jeder Psychiater) reproduziert die Folgen dieser Verdrängung, ob er persönlich es will oder nicht, bei allem. \\us er tut. (Zumindest soweit sollten selbst Psychiater die Forschungsergebnisse Sigmund Freuds zur Kenntnis nehmen.) Verdrängungen in der eigenen (Lebens-)Ge-schichte verursachen die unterschiedlichsten psychischen Symptome, von der ganz alltäglichen Variante neurotischen Verhaltens bis zu schweren reaktiven De pressionen, zwanghaftem Verhalten. sexuellen Perversionen oder, als Kompensation der aus solchen Restriktionen der Angemessenheit der Verarbeitung von Gefühlen und sozialer Realität resultierenden Störungen und Verflachungen des "Seelenlebens", zu Größenwahn und Verfolgungsphantasien etc. Aus all dem folgt, daß der Psychiater die latente Veranlagung, in Streßsituationen "psychotisch" zu reagieren, nicht aus den inneren Bedingungen der historischen Entstehung seines Berufsstandes und seines Arbeitsfeldes verbannen kann.

6) Nur auf den ersten Blick erscheint der Vergleich zwischen dem Psychiater und dem spätmittelalterlichen Inquisitor unstatthaft: Inquisition bedeutete in ihrer praktischen Handhabung nichts anderes als die gezielte Zufügung von körperlichen Schmerzen in Form der Folter mit dem diese Methoden heiligenden Zweck, die Seele (= die Psyche) des Ver-irr-ten zu retten und auf diese Weise seine wahre geistige Gesundheit wiederherzustellen. Die Dominikaner, deren Orden ausschließlich gegründet wurde, um die Inquisition durchzuführen, waren keine seelenlosen Sadisten, sondern handelten (im Auftrag der Kirche und damit im allgemeinen sozialen Konsens der Zeit, so wie es die Psychiater auch heute noch tun). Die Domini-caner hatten also einen durchaus sehr ähnlichen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen wie die Psychiater heutzutage. Nun wird kein Zeitgenosse ernsthaft die Inquisition in Schutz nehmen wollen. So bleibt als Konsequenz nur entweder zu behaupten, daß sich seit dem Mittelalter bei uns nichts geändert habe, oder aber daß die Inquisition Ausdruck für einen kollektiven religiösen Wahn war, der sich in der Verkleidung des Arztkittels bis heute in den unterschiedlichsten Formen und Varianten nicht ganz ausrotten ließ. Ich entscheide mich hier für die zweite Alternative und muß folglich dem armen Psychiater auch noch die Neigung attestieren, religiösen Wahnideen zu verfallen.

7) Nicht nur die zunächst einmal ja mit Vorsicht zu betrachtenden Verlautbarungen von Psychiatrie-Kritikern, sondern vor allem wissenschaftlich und klinisch unanfechtbare Studien beweisen eindeutig, daß die Einnahme von Psychopharmaka, insbesondere von Neuroleptika, zu bleibenden und schwerwiegenden körperlichen Schädigungen führen kann, sowohl hinsichtlich des Hormonhaushalts, als auch hinsichtlich des Nervensystems, der feinmotororischen Steuerung ("Dyskine-sien" etc.) und besonders der unabsehbaren Folgen, die die neuroleptisch verursachte Unterversorgung des cerebralen Raums mit Sauerstoff nach sich zieht. Rechnet man die mitunter unter neuroleptischer "Behandlung" auftretenden, "unerklärlichen" Todesfälle und die unter Neuroleptikaeinfluß aus Verzweiflung über die sehr bewußte Wahrnehmung der Ausfallserscheinungen durch die so Behandelten selber begangenen Selbstmorde hinzu, müßte auch der maßvollste Richter eine akute Fremdgefährdung, die von unserem Psychiater permanent ausgeht, feststellen.

Aus den Punkten l bis 7 folgt, legt man die real existierende psychiatrische Praxis als Vorbild zu Grunde, daß wir den so rekonstruierten, hypothetischen Psychiater mit Hilfe des Unterbringungsgesetzes ganz unbedingt auf der Stelle zwangseinweisen müssen, um unserer sozialen Verpflichtung als mündige Bürger in einer freien Gesellschaft auch nur in ihren allgemeinsten und selbstverständlichstenAuslegungenhalbwegs gerecht zu werden.

So. Schluß jetzt mit diesem Herumspielen mit meinem psychiatrischen Nicht-einmal-Halbwissen! (Aber besser, und vielleicht auch in einem allgemeineren Sinn "wahrer" als das von einem Laien nicht einzuholende psychiatrische Fachwissen, das dessen Inhaber zum gefährlichen, der sozialen Kontrolle entzogenen "Spezialisten" macht, ist es, bei dem zu bleiben, was einem die eigene Erfahrung plausibel erscheinen läßt, was sich auch "Dilettanten" zur Not noch mitteilen läßt, und was die Leute dazu veranlaßt, naiv, ohne Respekt, aufgrund ihrer eigenen Wahrnehmungen Fragen zu stellen, die sich der Psychiater schon längst verboten hat, um reibungslos seine Funktion in der psychiatrischen Maschine, die sich mit dem verschleiernden Titel "Krankenhaus" schmückt, erfüllen zu können!

Tilo


"Heilerfolg"

Die Don Quichotes und
die Schamanen
unserer Zeit
werden eingesperrt,
die Ragans und ihre Folterknechte
laufen frei herum und herrschen,
wessen Phantasie
eine eigene Mythologie,
Science-fiction- oder
Abenteuerromane
produziert, ohne daß er
am Schreibtisch sitzt und einen Verlag im Rücken hat,
der wird gespritzt,
damit ihm die Phantasie
vergeht und

er vor der Glotze sitzt
und zum Fließband eilt,
also "gesund" ist.
Die Aufgabe der Psychiatrie
ist die kulturelle

Verarmung und Verelendung.
Die Welt wäre viel farbiger und
abwechslungsreicher, wenn
jeder seine eigene Mythologie, Märchen
und Romane hätte,
Zustände von Rausch und Ekstase
kennenlernen würde,
die man neuerdings
als "Manie" bezeichnet.

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